Die Grundlagen des systemischen Arbeitens

Was ist eigentlich "systemisch"?

2/5/20247 min read

»Wir sind aufgefordert, unsere alltägliche Einstellung beiseite zu legen und aufzuhören, unsere Erfahrung als versehen mit dem Siegel der Unanzweifelbarkeit zu betrachten – so als würde sie eine absolute Welt widerspiegeln« (Maturana/Varela 1987, S.31).

In diesem Blogbeirag werden wir uns mit der Systemischen Haltung befassen und ihre genauere Bedeutung erkunden. Zunächst stellt sich die Frage:

Was bedeutet eigentlich "systemisch" im Systemischen Coachings- / Beratungs- / oder Therapieprozess?

Der systemische Ansatz basiert auf der Annahme, dass Menschen in einem komplexen Netzwerk von Beziehungen leben und agieren. Es geht darum, nicht nur das individuelle Verhalten und Denken zu betrachten, sondern auch die Wechselwirkungen und Dynamik innerhalb des Systems, in dem sich der Klient befindet. Du betrachtest also nicht nur den Klienten isoliert für sich allein, sondern als integraler Bestandteil eines größeren Ganzen - nämlich eines Systems.

Doch was ist überhaupt ein System?

Die schlechte Nachricht ist, dass Systeme tatsächlich nicht existieren. Die gute Nachricht ist jedoch, dass dadurch unendlich viele Systeme konstruiert werden können – solange sie sich als sinnvoll erweisen!

Und wer gehört zum System?

Alles und jeder können zu einem System gehören, so lange es dir dadurch möglich ist, den vorliegenden Fall erfolgreich zu bearbeiten. Beim Ziehen der Systemgrenzen geht es also nicht darum, dass das definierte System einer objektiven Wahrheit entspricht, sondern ob es sich in der angewandten Praxis als dienlich zeigt. Dabei gilt es zu beachten, dass es das erdachte System nur durch den Beobachter (also dich) gibt und dementsprechend der Beobachter ebenfalls Teil des Systems ist.

Dabei orientierst du dich an bestimmten Grundhaltungen, die eine professionelle und respektvolle Begleitung des Klienten sicherstellen. Zu den wichtigsten Systemischen Grundhaltungen gehören:

  1. Neugier, Neutralität und Offenheit: Du gehst möglichst ohne Vorannahmen und Bewertungen in den Coaching-/Beratungs-/Therapie-Prozess und bist offen für neue Perspektiven. Du verhältst sich dabei allparteilich.

  1. Nicht-Wissen: Du gibst nicht vor, alle Antworten zu kennen, sondern vertraust darauf, dass der Klient bzw. das Klientensystem über die eigenen Ressourcen und Lösungen bereits verfügt. Du gehst davon aus, dass der Klient bzw. das Klientensystem für sich selbst und seine Herausforderungen der größte Experte ist.

  2. Ressourcen- und Lösungsorientierung: Du legst den Fokus auf die Stärken und Ressourcen des Klienten(-systems) und arbeitest gemeinsam mit ihm daran, diese zu aktivieren und für den Transformationsprozess zu nutzen. Du bist davon überzeugt, dass die Konzentration auf Lösungen mehr hervorbringt, als die genaue Analyse und Lokalisation des vermeintlichen Problems.

  3. Wertschätzung: Du wertschätzt die bisherigen Lösungsversuche des Klienten, anstatt die bisherigen „Fehler“ zu kritisieren.

Nun widmen wir uns den theoretischen Grundlagen, die den systemischen Ansatz stützen.

Die Systemtheorie beschäftigt sich mit der Betrachtung von Systemen als Ganzes und nicht nur mit der Summe seiner Einzelteile. Sie betrachtet die Dynamik, Interaktionen und Veränderungen innerhalb des Systems. Du nutzt die Prinzipien der Systemtheorie, um die Dynamik und das Zusammenspiel von Elementen im Organisationssystem zu verstehen und den Transformationsprozess entsprechend zu gestalten. Zu nennen ist hier unter anderem die Kybernetik, welche sich als Teil der Systemtheorie mit der Steuerung und Regelung von Systemen befasst. Die Kybernetik erster Ordnung fokussiert sich auf die Homöostase – also das Systemgleichgewicht. Sie geht davon aus, dass es einen idealen Gleichgewichtszustand, beispielsweise innerhalb einer Organisation, geben kann, so dass diese optimal fungiert. Diesem Idealzustand können dysfunktionale Muster entgegenstehen, wie beispielsweise es verdeckte Konflikte oder suboptimale Kommunikationsstrukturen sein können. Wenn dieser Gleichgewichtszustand dadurch in Gefahr ist, kann ein Symptom oder ein Symptomträger dazu dienen, den Status quo zu erhalten (z.B. kann die stets sinkende Produktivitätsrate in einem Team als Symptom für die neue Teamleitung gesehen werden). Du kannst aufgrund deiner Beobachtungen die Muster des Organisationssystems beschreiben (bspw. der Einfluss der Teamleitung auf die Mitarbeitenden des Teams) und durch entsprechende Interventionen dieses beeinflussen bzw. verändern. Die Kybernetik zweiter Ordnung hingegen betrachtet aus der konstruktivistischen Brille heraus die Steuerung von Systemen, in denen der Beobachter des Systems inkludiert wird. Deshalb betrachtest du dich bei deinem Tun auch selbst und nimmst wahr, wie du das System beobachtest und welche Auswirkungen dies darauf hat, damit der Prozess dem Ziel zuträglich gestaltet werden kann. Konkret bedeutet das: Sobald du beispielsweise mit einem Führungskräfte-Team arbeitet, wird sich das Team durch deine Anwesenheit beeinflusst bereits verändert verhalten und umgekehrt –dieser Effekt sollte beachtet werden!

Das Stichwort „Konstruktivismus“ ist bereits gefallen, dabei handelt es sich vereinfacht gesagt um die Theorie, dass der Mensch sich seine Realität durch seine individuellen Erfahrungen und Vorstellungen selbst konstruiert, um sich so zur Orientierung in der Welt verhilft. Demnach basiert der Begriff des „Systems“ so wie jeder andere Begriff lediglich auf einer Konstruktion. Verdeutlicht werden kann die Theorie an folgendem Beispiel: ein normales Foto sowie ein Foto von einer Wärmebildkamera der Erde unterscheiden sich deutlich – zeigen jedoch dasselbe. Unsere Sicht auf die Welt entwickelt sich also aus unseren verarbeiteten Wahrnehmungen und ist nicht zwingenderweise die Darstellung der äußeren Realität. Nach diesen Ausführungen wird der Klient im systemischen Coaching-/Beratungs-/Therapieprozess als Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit betrachtet, wobei du ihn dahingehend unterstützen kann, neue Wirklichkeitskonstruktionen zu entwickeln (beispielsweise durch das Hinterfragen von Überzeugungen).

Ein wichtiges Werkzeug im Systemischen Coaching-/Beratungs-/Therapieprozess ist die Systemische Schleife. Sie beschreibt den iterativen Prozess des gemeinsamen Erkundens und Verstehens eines Problems oder einer Herausforderung. Sie umfasst das Sammeln von Informationen, das Erkennen von Mustern und Wechselwirkungen und das Entwickeln neuer Perspektiven und Handlungsoptionen.

Eigenes Design (angelehnt Königswieser/Hillebrand 2017, S.4)

Zu Beginn sammelst du Informationen über das System durch das Beobachten, dem Führen von Gesprächen oder durch Mitteilungen von Dritten (1.Schritt). Anschließend (2.Schritt) werden basierend auf den Informationen und Beobachtungen konstruktive Hypothesen gebildet, mit der Zielsetzung neue bzw. alternative Handlungsoptionen zu eröffnen. Im 3. Schritt werden die gefundenen Hypothesen im Coaching-/Beratungs-/Therapieprozess z.B. durch systemische Fragestellungen überprüft und daraufhin die entsprechenden Interventionen vorbereitet. Nachfolgend (Schritt 4) werden die Interventionen durchgeführt, welche zu Veränderungen und somit zu neuen Informationen im System führen. Schließlich werden im 5.Schritt die neu im System auftretenden Informationen (z.B. neue Perspektiven) erfasst und mit diesen wieder beim 2. Schritt, der konstruktiven Hypothesenbildung, angesetzt. Die weiteren Iterationen erfolgen im Prozess.

Nun möchten wir Ihnen zwei effektive Übungen für Transformationsprozesse in einer Organisation vorstellen:

1. Projekt-Umfeld-Analyse (PUMA):

2. Timeline-Arbeit

mit den drei Aspekten:

a) zur Entwicklungsgeschichte des Systems (beispielsweise eines Teams oder der Organisation)

b) die Geschichte der Problem- bzw. Symptomentwicklung

c) die Geschichte der Lösungsversuche aus eigenen Ressourcen heraus oder mit bereits in Anspruch genommener professioneller Hilfe

Dieses Tool eignet sich besonders, um einen strukturierten und tiefergehenden Einblick in die Vergangenheit einer Organisation zu erhalten und die Auswirkungen von Veränderungen auf diese besser zu verstehen. Natürlich kann statt der hier im Beispiel gewählten Reise mit dem Auto, stellvertretend für die Geschichte des Unternehmens, ein anderer passender Theme verwendet werden.

Eigenes Design

Eine wichtige Rolle im Coaching-/Beratungs/Therapie-Prozess nehmen die Systemischen Fragetechniken ein, um fortlaufend neue Perspektiven und Informationen zu gewinnen und daraus neue Lösungsansätze für die Herausforderungen der Organisation zu entwickeln (wir erinnern uns an die Systemischen Schleife). Hierzu zählen insbesondere:

· Zirkuläre Fragen: Das bedeutet quasi „um die Ecke zu fragen“, wodurch eine Außenperspektive eingebracht werden kann. Dem Klienten wird so die Möglichkeit eines Perspektivwechsels geboten, indem er sich auf die erdachte Realität über Dritte einlässt. Zirkuläre Fragen eignen sich hervorragend dafür, um neue Impulse in den Prozess zu geben und eingefahrene Denkweisen zu lösen.

· Hypothetische Fragen: Sie regen den Klienten dazu an, über mögliche zukünftige Ereignisse oder Situationen nachzudenken. Sie können dabei helfen, neue Lösungsansätze zu entwickeln und die Wahrscheinlichkeit des Gelingens einzuschätzen.

Wunderfrage: Die Wunderfrage ist eine spezielle Form der hypothetischen Frage, die den Klienten dazu anregt, sich vorzustellen, wie sich die Situation verändern würde, wenn sein Anliegen bereits gelöst wäre. Sie kann dabei helfen, neue Lösungsansätze zu entwickeln und die Zielerreichung zu fokussieren.

· Ressourcenfragen: Ressourcenfragen konzentrieren sich auf die Stärken und Fähigkeiten des Klienten. Sie helfen dabei, die Selbstwirksamkeit des Klienten zu stärken und neue Ressourcen zu entdecken.

An der Stelle will ich dir meine Favoriten an systemischen Fragen in mitgeben:

„Was glauben Sie würde eine Koryphäe auf dem Gebiet Ihrem Partner in der Angelegenheit raten?“

„Welche Strukturen und Prozesse innerhalb des Systems unterstützen bereits die Ziele?“

„Stellen Sie sich vor, dass sich Ihr Anliegen in der Nacht von heute auf morgen von selbst erfüllt hätte. Was ist das Erste, woran Sie das am nächsten Morgen bemerken würden? Wer würde es noch bemerken und woran? Wer fände es gut, wer schlecht?“

„Welche kleinen Schritte können Sie heute unternehmen, um dem Ziel näher zu kommen?““

QUELENANGABEN:

Heerwagen, Sike / Herández Vera, Monique / Krug-Gottwald, Daniela / Lübbers, Sven / Rohmann, Nicholas / Westerhoff, Thomas (2023): Digitale Transformation wirksam gestalten. Handlungsimpulse für Strategie, Struktur, Führung und Kultur. Springer

Königswieser Roswita, Hillebrand, Martin (2017): Einführung in die systemische Organisationsberatung. Carl-Auer

Kutz, Angelika (2020): }essentials{. Systemische Haltung in Beratung und Coaching. Wie lösungs- und ressourcenorientierte Arbeit gelingt. Springer

Moreno, Jacob Levy (1996): Die Grundlagen der Soziometrie. Wege der Neuordnung der Gesellschaft. Springer

Schwing, Rainer / Fryszer, Andreas (2015): Systemisches Handwerk. Werkzeug für die Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht

a book shelf filled with lots of books
a book shelf filled with lots of books

Eine Projekt-Umfeld-Analyse fungiert als Diagnose- und Analyseinstrument. Sie veranschaulicht die relevanten Akteure (z.B.: Personen, Abteilungen, Partner*innen usw.), die an der Projektgestaltung beteiligt sind und zeigt auf, wie sie in Beziehung zu dem Projekt stehen. Die Vorteile umfassen die Visualisierung des Systems des Projektumfeldes mit seiner Komplexität, die Offenlegung der Haltungen, Erwartungen und Anliegen der Akteure sowie die frühzeitige Identifikation von Konfliktpotenzialen und Kooperationsmöglichkeiten. Zudem ermöglicht sie die Strategieentwicklung zur Beziehungsgestaltung mit den Beteiligten und erlaubt die Ableitung konkreter Aktionspläne. Ggf. kann aus der erstellten Grafik auch abgeleitet werden, welche Beteiligten erst im weiteren Projektverlauf an Bedeutung gewinnen, die zunächst übersehen worden sind.

Wichtig: Die PUMA bildet immer nur eine Momentaufnahme ab! Somit kann es sinnvoll sein, die Analyse im Projektverlauf zu wiederholen. Die Darstellungsform kann natürlich nach dem eigenen Belieben verfeinert werden, beispielsweise mit weiteren Symboliken. In diesem Beispiel werden die Beziehungen der unterschiedlichen Akteure zusätzlich durch die Nähe bzw. die Distanz zum Fixpunkt, dem Projekt, aufgezeigt. Zudem sollte hier das Wort "Projekt" nicht im engeren Sinne verstanden werden, sondern kann auch ein Thema oder eine spezifische Veränderung umfassen.